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Alles passiert aus einem Grund - oder nicht?

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
27.8.24
13 Minuten Lesezeit
Eine Person mit einem weiblich gelesenen Körper sitzt gemütlich auf dem Boden, Hände entspannt in ihren Füßen. Der Kopf ist außerhalb des Bildes. Die Person trägt eine Jeans und einen weißen Pullover.

Mir begegnet der Satz „Alles passiert aus einem Grund“ in der spirituellen Coaching-Szene ziemlich häufig. Gerne auch in Kombination mit dem „Gesetz der Anziehung“: du ziehst an, was du ausstrahlst. Du bist selbst für das verantwortlich, was dir passiert. Alles passiert aus einem konkreten Grund (natürlich einem positiven!), der dir (oder deiner Seele) hilft zu wachsen und dich weiterzuentwickeln. Ich sehe diesen häufig als Floskel verwendeten Satz sehr kritisch. In diesem Blogartikel möchte ich mich tiefer damit auseinandersetzen – ich möchte die Schwierigkeiten hinter dem Satz erklären, aber auch einen neuen, Trauma-sensiblen Blickwinkel teilen, den ich für mich selbst vor kurzem entdeckt habe.

Warum verwenden Menschen Sätze wie „Alles passiert aus einem Grund“?

Lass uns damit beginnen, darauf zu schauen, warum viele Menschen diesen Satz vielleicht gerne verwenden.

Zunächst kann er auf einer individuellen Ebene Trost und Unterstützung bieten – wir fühlen uns nicht ganz so hilflos wegen dem, was uns passiert (ist), und gewinnen möglicherweise etwas Zuversicht zurück, dass es doch zu etwas gut war. Das kann auf einer individuellen Ebene bestärkend wirken.

Menschen nehmen sich selbst außerdem ganz natürlich als Mittelpunkt der Welt wahr – deshalb erwarten wir, dass das, was uns passiert, einen Grund haben muss – oder fragen uns, warum die Dinge uns passieren. Warum ist ausgerechnet mir das Glas kaputt gegangen? Warum hatte ausgerechnet ich diese fürchterliche Kindheit? Warum habe ausgerechnet ich diese Krankheit? Wir suchen nach einem Grund beziehungsweise einer Erklärung, warum Dinge uns passieren, weil die Antwort es für uns gegebenenfalls leichter erträglich macht.

Und schließlich nutzen wir solche Sätze gegebenenfalls auch, um unseren eigenen Schmerz oder den von anderen so schnell wie möglich zu lindern – mit möglichst wenig emotionaler Auseinandersetzung. Wenn alles, was mir passiert, aus einem Grund passiert, der am Ende auch noch etwas Gutes für mich hervorbringt, brauche ich heute nicht wütend oder traurig sein. Oder die Person mir gegenüber, der etwas Schlimmes passiert ist. Dann muss ich diese vielleicht unkomfortablen, schmerzhaften oder überwältigenden Gefühle gar nicht fühlen. Das nennt sich „emotionales Bypassing“.

Psychologische Mechanismen hinter dem Bedürfnis nach Sinngebung

Ich finde es grundsätzlich auch interessant zu betrachten, welche psychologischen Mechanismen hinter unserem Bedürfnis stehen, allem einen Sinn zu geben. Zwei wichtige Konzepte spielen hier eine Rolle, die ich gerne im Rahmen dieses Artikels ebenfalls kurz Beachtung schenken möchte:

  1. Kognitive Dissonanz: Wenn wir mit Ereignissen konfrontiert werden, die nicht zu unseren Überzeugungen passen, entsteht ein unangenehmes Gefühl in uns. Um dieses zu reduzieren, neigen wir dazu, Erklärungen zu finden, die unser Weltbild aufrechterhalten können.
  2. Kontrollbedürfnis: Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis nach Kontrolle über ihr Leben. Indem wir Ereignissen einen Sinn zuschreiben, fühlen wir uns weniger hilflos und dem Schicksal ausgeliefert.

Diese Aspekte können erklären, warum wir oft so hartnäckig nach einem "Grund" suchen, selbst wenn die Realität vielleicht komplexer und weniger geordnet ist.

Warum wir den Satz „Alles passiert aus einem Grund“ kritisch sehen sollten

Damit sind wir aber auch schon bei dem Grund, warum der Satz „Alles passiert aus einem Grund“ bei mir sehr lange vor allem ein Gefühl hervorgerufen: Wut!

Zunächst habe ich häufig das Gefühl, dass Menschen diesen Satz gerne als Einladung zum emotionalen Bypassing nutzen. Anstatt mit einer angebrachten Emotion wie Wut oder Traurigkeit auf eine Situation oder eine Person zu reagieren, überspringen beziehungsweise ignorieren sie ihre Gefühle und reden sich (bewusst oder unbewusst) ein, dass diese Erfahrung ja aus einem konkreten Grund FÜR SIE passieren würde und sie dafür dankbar sein müssten.

Ganz nach dem Motto: „Es passiert ja alles immer FÜR mich. Also darf ich nicht wirklich wütend oder traurig sein. Also tue ich so als wäre ich dankbar und ultimativ glücklich über das, was mir passiert ist.

Zudem scheint dieser Satz häufig vor allem von den Menschen genutzt zu werden, die sehr viele Privilegien haben – in der Coaching-Szene sind das meist weiße Menschen mit einer guten Ausbildung, die – unter anderem auch aufgrund ihrer Herkunft – viele Vorteile im Leben genießen und dadurch mehr erreichen können als andere. Menschen, die sich um Rassismus, Homo- oder Transfeindlichkeit oder um strukturelle Ungleichheiten in unserem System (und deren Auswirkungen) keine Gedanken machen müssen, sondern aufgrund ihrer privilegierten Situation auch mit Herausforderungen und Schicksalsschlägen resilienter umgehen können.

Wenn ich jedoch auf aktuelle Weltgeschehnisse schaue und all das Grauen ansehe, was sich da abspielt… Wenn ich darüber nachdenke, wie viele Menschen täglich verhungern. Wie viele Menschen auf der Flucht oder im Krieg sterben. Wie viele Mädchen und Frauen täglich verschleppt, vergewaltigt oder getötet werden… dann ist der Satz „Alles passiert aus einem Grund“ auf einer individuellen Ebene (mit der Implikation „Alles passiert für dich!“) einfach ein Schlag ins Gesicht für die Millionen von Menschen, die nicht so privilegiert sind wie zum Beispiel weiße Menschen mit Akademikerhintergrund in Deutschland.

Was auf der individuellen Ebene bestärkend wirken kann, wirkt auf kollektiver Ebene, wenn wir die Gesamtheit der Menschen und das vorherrschende Leid ansehen, einfach sehr grotesk.

Aus Trauma-informierter Sicht ist es meiner Meinung nach eine Frechheit, Menschen, denen etwas Fürchterliches passiert, zu sagen, dass alles aus einem Grund passiert, dass alles „für sie“ passiert, dass sie (oder ihre Seelen) sich das ausgesucht haben, um daran wachsen zu können.

Nein, deine unglückliche Kindheit ist nicht „für dich“ passiert.

Nein, das Universum hat sich nichts Größeres damit gedacht, dass du einen sexuellen Übergriff erleben musstest.

Nein, die tausenden Menschen, die täglich verhungern, haben nichts getan, womit sie dieses Schicksal verdient hätten.

Nein, ich glaube nicht daran, dass auf individueller Ebene alles für uns (oder unsere Seelen) passiert. Ich glaube, dass viele Dinge passieren, die gar nichts mit uns oder unserem Seelenplan zu tun haben. Das Universum hält nicht schützend über jedes einzelne Individuum ihre Hand. Manche Dinge passieren Individuen, ohne dass sie hinterher dadurch „stärker“ werden oder daran wachsen können! Manche Geschehnisse traumatisieren, brechen und zerstören Leben.

Und Menschen, die etwas Traumatisierendes erlebt haben, zu sagen, dass alles „aus einem bestimmten Grund“ oder „für sie“ passiert, ist meiner Meinung nach vor allem empathielos und scheiße!

Kulturelle Unterschiede in der Sinngebung

Gleichzeitig ist mir auch noch wichtig zu beachten, dass die Interpretation und Verwendung von Sätzen wie "Alles passiert aus einem Grund" kulturell sehr unterschiedlich sein kann. In manchen Kulturen können ähnliche Konzepte eine andere Bedeutung oder Funktion haben. Beispiele dafür sind die folgenden:

  • In einigen östlichen Philosophien wird das Konzept des Karma oft missverstanden. Es geht dabei nicht um Bestrafung oder Belohnung, sondern um die natürlichen Konsequenzen unserer Handlungen.
  • In manchen indigenen Kulturen gibt es eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und dem Kosmos, die zu einem anderen Verständnis von "Grund" und "Sinn" führen kann.
  • In stark kollektivistischen Gesellschaften liegt der Fokus meist weniger auf individuellen Gründen, sondern mehr auf der Bedeutung für die Gemeinschaft.

Diese kulturellen Unterschiede zu berücksichtigen, kann meiner Meinung nach zusätzlich helfen, sensibler und differenzierter mit solchen Aussagen umzugehen.

Eine Erfahrung, die meine Sicht erweitert hat

Lange endete meine Auseinandersetzung mit dem Satz hier. Ich fand ihn unangebracht und er machte mich wütend, weil er oft von Menschen verwendet wird, die ihre eigenen Privilegien nicht kennen und sich und andere Menschen zum emotionalen Bypassing einluden.

Ende 2023 ist mir in Peru etwas passiert, das meine Sicht auf diesen Satz und dessen Implikation verändert beziehungsweise erweitert hat. Gleich zu Beginn meiner Reise wurde mir mein Telefon geklaut. In einem Cafe von zwei Personen, als ich gerade mit meinem Herzmenschen Mittagessen war, direkt unter meiner Nase (beziehungsweise unter meinem Tisch) weg. Ein ziemlicher Alptraum, weil doch gefühlt dreiviertel meines Lebens in diesem Gerät stecken. Für mein Sicherheits-liebendes Nervensystem war die Erfahrung alles andere als bestärkend.

Die darauffolgenden Tage bin ich durch verschiedene Phasen und Emotionen gegangen. Wut. Verzweiflung. Akzeptanz. Dann doch wieder Trauer und Enttäuschung.

Und wie wohl die meisten Menschen habe ich mich zwischendrin gefragt: „Warum passiert eigentlich ausgerechnet mir das?“. Ich habe nach Gründen gesucht, um besser zu verstehen und akzeptieren zu können, und sogar meine persönlichen Wachstumschancen in dieser Situation analysiert (ja, am Ende wollte ich sagen können: „Ha! Ich verstehe wirklich, dass dieser Diebstahl für mich passiert ist und ich konnte daraus etwas lernen und daran wachsen!“).

In einem entspannten Moment ein paar Tage nach dem Vorfall ist mir dann etwas bewusst geworden – etwas, das meine Sicht auf den Satz „Alles passiert aus einem Grund“ tatsächlich verändert hat!

Ein neuer Trauma-informierter Blickwinkel

Mir ist bewusst geworden, dass vermutlich wirklich vieles (ich mag nicht sagen „alles“, weil mir das zu ultimativ ist) von dem, was auf dieser Erde passiert, aus einem konkreten Grund passiert… allerdings anders, als wir das bisher immer interpretiert haben.

Dinge passieren, weil Menschen, die sie tun, eine Hintergrund-Geschichte haben.

Mir wurde das Telefon geklaut, weil zwei Menschen in dem System, in dem sie leben, nicht gesehen und gehalten werden. Weil sie traumatisiert sind und nicht verbunden mit sich, ihren Mitmenschen und der Welt.

Menschen ignorieren den Klimawandel und unterstützen patriarchale, kapitalistische Ansätze, weil sie traumatisiert sind und nicht verbunden mit sich, ihren Mitmenschen und der Welt.

Menschen führen Kriege, vergewaltigen, töten, weil sie hoch traumatisiert sind und nicht verbunden mit sich, ihren Mitmenschen und der Welt.

Das meiste von dem, was Menschen passiert, weil andere Menschen ihnen das antun, passiert aus einem konkreten Grund: nämlich, weil Menschen traumatisiert sind und nicht verbunden mit sich, zueinander und der Welt.

Das löst natürlich die individuelle Frage nach dem „Warum ist mir das passiert?“ nicht. Im Zweifel bedeutet es auch, dass es für mich kein größeres Learning in der Erfahrung gibt und ich am Ende stärker aus der Situation hervorgehe.

Im Zweifel war ich einfach im falschen Moment am falschen Ort.

Im Zweifel bin ich einfach im falschen Körper, zur falschen Zeit, im falschen Land geboren.

Empathische Alternativen in schwierigen Situationen

Zum Abschluss möchte ich noch einige alternative Möglichkeiten mit dir teilen, die einen empathischeren Weg aufzeigen, den du anstelle von Sätzen wie "Alles passiert aus einem Grund" verwenden können:

  1. Übe dich in aktivem Zuhören. Oft brauchen Menschen in schwierigen Situationen einfach jemanden, der ihnen zuhört, ohne zu urteilen oder sofort Lösungen anzubieten.
  2. Validiere die tatsächlichen Gefühle deines Gegenübers. Sätze wie "Es ist verständlich, dass du dich so fühlst" oder "Das klingt wirklich schwer für dich" können sehr tröstlich sein und geben deinem Gegenüber das Gefühl, wirklich gesehen und verstanden zu werden.
  3. Biete Unterstützung an. Frage, wie du dein Gegenüber unterstützen kannst oder was die Person gerade braucht statt direkt eine Lösung anzubieten. Das zeigt Empathie und echte Anteilnahme.
  4. Die Wahrheit ist: Wir kennen den wahren Grund nicht, warum etwas passiert ist. Lasse Raum für Komplexität zu. Manchmal ist das Hilfreichste, was wir sagen können: "Ich weiß nicht, warum das passiert ist, aber ich bin für dich da."

Diese Ansätze ermöglichen es uns, mitfühlend und unterstützend zu sein, ohne in emotionales Bypassing zu verfallen oder die Komplexität der Situation zu vereinfachen. Wenn du weitere Ideen hast, wie wir in herausfordernden Situationen empathisch reagieren können, teile diese gerne mit uns in den Kommentaren.

Abschließende Gedanken

Abschließend mag ich noch sagen, dass es mir bei diesem Artikel nicht darum ging, zu sagen, dass wir aus herausfordernden Situationen nicht trotzdem etwas lernen oder daran wachsen können. (Theoretisch war ja mein Learning aus der „Telefon-Diebstahl“-Geschichte sogar, dass ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin ;D)

Es bedeutet lediglich, dass nicht alles, was uns passiert, aus einem persönlichen Grund oder für uns passiert. Sondern dass die meisten Dinge passieren, weil andere Menschen eine Geschichte mitbringen – und häufig eben auch Trauma und ungelöste Themen.

Zum Ende dieses Artikels möchte ich uns alle dazu einladen, dass wir vor der Verwendung von Sätzen wie „Alles passiert aus einem Grund“ in Zukunft erstmal unsere Privilegien checken und dann etwas genauer reflektieren, ob wir damit vielleicht gerade eher zum emotionalen Bypassing einladen statt (uns oder anderen) wirklich zu helfen.

Ich bin neugierig, was meine Gedanken zu diesem Thema mit dir machen. Wenn du magst, teile sie gerne in den Kommentaren unter diesem Beitrag mit mir. (Ein lieb gemeinter Hinweis: Übergriffige oder beleidigende Kommentare jeglicher Art werden nicht veröffentlicht, sondern direkt gelöscht, achte also sehr gerne auf deine Formulierungen.)

Viele liebe Grüße

deine Svenja

Anmerkung: In diesem Blogartikel habe ich mich auf den konkreten Satz „Alles passiert aus einem Grund“ bezogen. Es gibt aber viele ähnliche Sätze, die nach dem gleichen Prinzip angewendet werden, emotionales Bypassing für das Individuum einladen und in ihrer Anwendung kritisch hinterfragt werden dürfen. Dazu gehören zum Beispiel auch „Du kannst alles erreichen, was du dir vornimmst!“, „Nur du selbst stehst dir im Weg!“ oder „Du bist allein verantwortlich für deine Erfahrungen!“.

Ein Portrait-Foto von Svenja, mit dem Meer im Hintergrund. Svenja lacht in die Kamera.
Svenja Tasler
27.8.24
13 Minuten Lesezeit